Ist Atze Schröder ein lokaler Künstler?
Ein Essay über Anliegerstraßen, regionales Gemüse und internationalen Austausch
Neulich las ich zufällig, dass der Komiker Atze Schröder, die Ruhrgebiets-Ikone schlechthin, seit Jahren in Hamburg wohnt und dort sehr glücklich ist. Da schau an! Gilt er jetzt noch als heimischer Künstler oder ist er für seine lokalen Fans über Nacht ein anderer geworden? Ein Hamburger Pfeffersack?
Vermutlich fiel mir die Notiz auch deshalb ins Auge, weil ich als Leiterin der Institution Urbane Künste Ruhr häufiger mit der Diskussion um die regionale Herkunft der beteiligten Künstlerinnen konfrontiert bin. Einmal versuchte ich dem Konflikt ermüdet mit einem Hinweis auf die tatsächliche Beteiligung von im Ruhrgebiet ansässigen Künstlerinnen und -gruppen an den letzten Projekten zu begegnen. Denn entgegen der Wahrnehmung von einigen wenigen, dafür umso lautstarker vorgebracht, ist ihr Anteil nicht klein und durch das ortsbezogene Arbeiten und die vielen Kooperationen ohnehin eine starke Erdung in der Region gegeben. Mit der Aufzählung geriet das Gespräch in folgende Bahn: Gut zehn im Ruhrgebiet lebende Künstler*innen sowie die Würdigung eines bereits verstorbenen und ja, auch dieser Künstler gehört dazu. Er lebt heute in Leipzig, aber er ist in Duisburg geboren und aufgewachsen.
Kaum ausgesprochen, fühlte es sich hundertprozentig verkehrt an. Damit hatte ich mich auf ein Spiel eingelassen, dessen Regeln nicht nur undurchschaubar, sondern vor allem absurd sind. Ein solches Denken in Herkunftskategorien als Ein- oder Ausschlusskriterium endet zwangsläufig in einer Sackgasse. Sowieso – und erst recht in Hinblick auf noch größere räumliche und kulturelle Migrationsbewegungen als von Duisburg nach Leipzig oder vom Ruhrpott nach Hamburg. Solange die Angaben zum Lebenslauf nicht mit Inhalten gefüllt werden, bleiben sie nichtssagend. Man kann die verschiedenen Umgebungen und Einflüsse, denen ein Mensch ausgesetzt ist, nur als potenzielle Prägungen verstehen. Über die Intensität und Art der Erfahrungen ist damit noch nichts gesagt und über die Qualität möglicher Kunstprojekte erst recht nichts.
Angesichts der gegenwärtigen Diskurse um Identität scheint es fast müßig, begründen zu müssen, dass auch die Frage nach der regionalen Verankerung eine subjektive und relative Größe ist. Es gibt keine regionalen Künstlerinnen, möchte ich behaupten, nur Künstlerinnen mit einem spezifischen Interesse an lokalen Themen. Unstrittig dagegen ist, dass die Anwesenheit von bestimmten Charakteren zum gleichen Zeitpunkt, eine entsprechende Förderung und eine experimentierfreudige Atmosphäre wesentliche Faktoren sind, die die Entwicklung einer lebendigen Szene begünstigen. Das haben übrigens auch schon zahlreiche ortsgebundene Stiftungen verinnerlicht, die die Frage nach der regionalen Zugehörigkeit schon lange nicht mehr am Geburtsort festmachen, sondern allenfalls am Wohnort. Aber auch daraus ergibt sich eine Einbahnstraße: Nur für Anlieger steht dort auf einem großen Schild. Glücklicherweise kann man sich darüber jederzeit hinwegsetzen. Und zwar mit der einfachen Begründung, dass man ein Anliegen hat.
Äpfel und Birnen
In diesem Sinne erscheint mir – im Gegensatz zum Obst- und Gemüsekauf – ein geteiltes Anliegen als Zutat für das kulturelle Leben einer Stadt oder Region sehr viel wichtiger als die Kategorie des Wohnorts oder gar der Herkunft. Ähnlich wie bei der „Grabe, wo du stehst“-Praxis der Geschichtswerkstätten-Bewegung führt im übertragenen Sinn jeder Stein, der lokal umgedreht wird, irgendwann unweigerlich zu größeren globalen Zusammenhängen.
Jeder Kiosk, der als heimische Besonderheit gefeiert wird, bezieht seine Waren über globale Lieferketten. Und umgekehrt: Jede ortsfremde Persönlichkeit vermag über den eigenen Blick, spezifische Interessen und persönliche Erfahrungen in einem anderen Kontext Dinge und Spuren zu entdecken, die neue Verbindungslinien herstellen und Aktionsfelder aufmachen. Traditionsbrüche dieser Art mögen für die Einheimischen mitunter schmerzhaft sein, aber nur so geraten Dinge in Bewegung, werden vorhandene Leerstellen sichtbar. Erst wenn die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten abstrahiert werden, lässt sich erkennen, welche lokalen Eigenheiten es warum in besonderer Form zu kultivieren gilt.
Teilchenphysik im globalen Kachelstudio
In den späten 1990er-Jahren wurde in die Diskussion um Kunst im öffentlichen Raum der Begriff Teilöffentlichkeiten eingeführt. Vergleichsweise faktisch verwies er darauf, dass die in den Programmen enthaltene Behauptung, es könne Kunst für eine Öffentlichkeit geben, einer Anmaßung gleichkommt – eine Diskussion, die heute angesichts eines gestiegenen Bewusstseins für die vielen nicht-Adressierten und nicht-Gehörten Gruppen im öffentlichen Raum noch sehr viel differenzierter geführt wird. Die Pluralbildung, vor allem jedoch die sprachliche Fragmentierung in Teile, hob auch vor dem Hintergrund einer zunehmenden Digitalisierung um die Jahrtausendwende Aspekte der Zersplitterung hervor und betonte gleichzeitig die Akzeptanz eines Nebeneinanders an verschiedenen Erfahrungen, Wünschen und Lebensrealitäten. Was nicht heißt, dass es nicht bis heute gilt, genau diese Logik immer wieder durchbrechen zu wollen.
Beim Nachdenken über das Verhältnis vom Lokalen zum Globalen, vom Regionalen zum Internationalen kommt mir diese Debatte wieder in den Sinn. Wenn es darum geht, dass Regionale vom Globalen zu unterscheiden, hilft es vielleicht, die jeweils adressierten Öffentlichkeiten in den Blick zu nehmen? Menschen, die gemeinhin als internationale Künstlerinnen bezeichnet werden, einmal abgesehen davon, dass jeder Mensch außerhalb seines Heimatlandes als international gilt, kommunizieren über ihre Ausstellungstätigkeit mit internationalen Öffentlichkeiten. Und erzählen zu Hause in der Bar nebenan von den Strapazen der Reise … Mag sein, dass dies vor unseren Erfahrungen mit der Pandemie ein halbwegs brauchbarer Gedanke war.
Heute lässt sich die Selbstverständlichkeit der internationalen Kommunikation auf den einschlägigen Meeting-Plattformen als eine der wenigen Errungenschaften verbuchen, die der Corona-bedingte Crashkurs in Sachen Digitalisierung hervorgebracht hat. Potenziell kann rund um die Uhr an Diskussionen und Veranstaltungen überall auf der Welt teilgenommen werden, mit allen Einschränkungen, die eine digitale Zusammenkunft bedeutet. Im Rahmen von Gesprächsformaten, auf digitalen Bild- und Tonebenen lassen sich von allen Seiten lokal geprägte Erfahrungen in größere Diskurse einbringen, um sie zu teilen, aber auch um sie durch andere, ihrerseits lokal geprägte Ansichten in einem neuen Licht gespiegelt zu bekommen. Die Grenze zwischen den regionalen und internationalen Öffentlichkeiten verschwindet zugunsten gemeinsamer Interessen im Pixelnebel. Und: Atze Schröder gibt es gar nicht. Laut Wikipedia hat der Darsteller Atze Schröders für seine Figur eine Biografie erfunden, nach der diese 1965 als Thomas Schröder im Essener Stadtteil Kray geboren worden sei. Der Darsteller des Atze Schröder, gelernter Tanzlehrer und Soziologe, lehnt eine Offenlegung seiner bürgerlichen Identität ab und ist bereits mehrfach erfolgreich mit Gerichtsverfahren dagegen vorgegangen.